Leseprobe zu „Armut ist ein brennend Hemd“
…..Im Jahr 1848 in Scholmerbach, nach einem verheerenden Hungerwinter
und in der unruhigen Zeit einer holprigen Dorfrevolution…
– Der Mensch und das Tier sind wie toll geworden! schrieb der Schulmeister Holperen dem Schulrat von Marienberge, dass kein Kind in der Schule erschienen war und allerlei Unfug und Gewalt von den Schulkindern ausginge, dass sie des Schulmeisters Ruten zerbrochen hattenund die Schultafel umgeworfen, es war alles außer Rand und Band und Zügellosigkeit herrschte in allen Gassen..
– Keine Zucht und Ordnung mehr, so sprach der Pfarrer Vinzenz betrübt zu seinem Herrgott. Sie zogen allenthalben durch Straßen und Gassen und warfen mit Steinen, brachen Latten von den Zäunen, und nahmen sich beim Zuckerbäcker in Ellingen einfach die Brezeln von der Stange und aßen sie auf. Wie lange wollte der Herzog sich das gefallen lassen? Wie lange sollte der Aufruhr gegen die gottgewollte Ordnung noch dauern? Er mochte kaum noch aus dem Haus gehen und der Liederlichkeit und dem schäumenden Übermut begegnen, die ihn mit aller Obrigkeit in einen Topf warfen.
Die Faulsten waren wie immer die Frechsten und der Schnuckes und der Hanjokeb verhöhnten ihn auf offener Straße als Pfaffen und als Weihwasserpinsel. Wie sollte er die Scholmerbacher vor der Hölle bewahren, wenn sie nichts als fluchten und soffen und Sodom und Gomorra herrschte!?? Der Herr sollte Vinzenz gnädig sein, wenn er beinahe das Beten verlernte, in diesen unseligen Wochen des Aufruhrs und der Gottlosigkeit.
Seine Kirche war geschmückt mit blassen Bildern von Jesus und Maria und mit dem Kreuz über dem Altar, Schnitzereien vor der Kanzel, schmal brennenden Kerzlein und bunt gefärbten Papierblumen, die die Leute vor das Bildnis der Maria Muttergottes legten, das traulich in der Ecke hing. Papierblumen überall, gedreht und gewunden, dieser billige Schmuck .
Kaum war der Schnee auf den Dächern geschmolzen und hatte der eisige Wind an Kraft verloren, sah man schon die Händler und das Bettelpack am dicken Baum auftauchen und alle brachten sie in diesem Frühjahr Papierblumen und Fliegenwedel, das war das Neueste, Papierblumen in allen Farben, rot und gelb und grün, man konnte sie an Stecken über das Feuer hängen, dann drehten sich die Papierblumen lustig. Die Wetterauer hatten sich das ausgedacht und schnitten mit einem selbstgemachten Förmchen in Frankfurter Pergament und drehten dann die Röslein zusammen. Außerdem hatten sie in ihrer Not Hühnerfedern in ihren schmutzigen Höfen aufgelesen und sie zusammengebunden an einen Stecken und das nannten sie Fliegenwedel und sollte das umhersurrende Geschmeiss vertreiben. Darauf fiel keiner rein, niemand kaufte den Wetterauern das zusammengewickelte Zeug aus ihren Hinkelbänken ab, wenn er doch seine Hände nehmen konnte oder einen alten Lappen um die Fliegen zu verscheuchen.
Aber der Wetterauer Valtin sagte, in Engeland kaufen alle diese Fliegenwedel. Er hatte gehört, es gab solche Fliegenplagen in London gab, dass alle diese Federnwische am bunt bemalten Stecken kauften. Die Wetterauer Kinder lernten sogar Englisch und sagten sowas wie:
Und dann kauften die feinen Damen die Fliegenwedel wie verrückt. Besser noch ging es, wenn die Hessenmädchen dabei sangen und tanzten. In diesem Jahr wollte er mit seinen lahmen Beinen nach Frankreich gehen, Engeland war ihm zu weit. Aber da nahm er zwei Mädchen aus Böllersbach mit, die hatten sich nicht so angestellt, und waren ihm dankbar, dass er ihnen aus ihrem Elend half.
Pfarrer Vinzenz konnte darüber nur den Kopf schütteln. Unschuldige Mädchen ins Ausland führen. Welche Gefahr lauerte da für sie! Darüber wollte er nächsten Sonntag predigen, über das schändliche Herumziehen in der Welt, wo man all die aufrührerischen und ketzerischen Ideen aufschnappte, die lose Moral und die Liederlichkeit, die Spielerei, Hoffahrt, Unsittlichkeit und Verderben.
Allein, es wollte ihm die Kraft fehlen. Wie all die anderen litt er seit langem unter den Hungersnöten und sein christliches Pfarrgewand schlotterte allzu lose um ihn herum. Manchmal tat er nur als ob er betete, und dann wieder betete er inbrünstig wie all die armen Weiberlein, die um ihre Toten trauerten. Sie schleppten unentwegt feuchten Dreck und Straßenkot in seine Kirche und malten einen Weg voller brauner Klümpchen vor die Gottesmutter. Dort warfen sie sich dann Maria zu Füßen.
Vinzenz Mine hellte sich auf, als er an der Türe das Bettchen sah, das mit rosigen Wangen herbeinkam, sich bekreuzigte und der Muttergottes ein Weidekätzchen hinlegte. Er legte ihr die Hand auf den Kopf und segnete sie.
Bettchen wurde rot und brachte den Namen nicht über die Lippen, aber dann zeigte sie Richtung Wirtshaus.
Vinzenz fror. Seit er gegen die Sechzig zuging, musste er sich immer ein Schafsfell um den Leib wickeln. Was sollte er bloß mit dieser Mädchenschwärmerei anfangen? Bettchen knickste und sah ihn wütend an und wollte aus der Kirche laufen, aber Vinzenz hielt sie zurück.
Bettchen traute sich nicht, zu widersprechen, und sie half dem Herrn Pfarrer ja eigentlich gerne, aber sie ärgerte sich doch über seine Worte und daher trampelte sie ordentlich auf und machte eine Schnüss` als sie ihm zum Kirchhof folgte.
Dort lagen, von Buchsbaum umkränzt, und hinter einer schweren, eisernen Kette am Eingang unordentlich die frisch vergrabenen Toten des Winters zwischen den Toten des vergangenen Jahrhunderts, die Kreuze waren in der tauenden Erde umgefallen, dürre Tannenzweige von den einsinkenden Grabhügeln gerutscht und im geschmolzenen Schnee lagen aufgeweichte Papierblumen wie dunkle Pfützen um die Drahtstängelchen.
Auf seinen Küster , den Schulmeister , war auch kein Verlass mehr und der Gemeindediener Ludwig lief nur noch in der Weltgeschichte herum und besoff sich für die Freiheit.
Vinzenz nickte. Verschämt hatte er in den letzten Jahren mehr und mehr Boden geweiht und an der Kirchhofsmauer lagen nur noch die totgeborenen Kinder, der schlechte Verbrecher Siegmund, der sein Weib erschlagen hatte und der böse, alte Waldemar, der Gott verflucht hatte und behauptet, es gebe ihn nicht. Gleich eine Reihe darunter lagen Hanne und all die anderen ledigen Mütter und Ehebrecher.
Kaum, dass Bettchen angefangen hatte, mißmutig hergewehte Äste und verfaulte Zweige mit dem Fuß aus dem Weg zu räumen, krachte plötzlich ein Gewitterschlag aus dem schwarzen Himmel und ein Platzregen setzte ein, so dass Vinzenz und Bettchen von den Gräbern flohen und sich am Brunnen unter dem Kirchbaum ducken mussten.
Missmutig starrte er auf die Gräber, die einmal mehr von der Schwere dieses Regengusses auseinandergewalzt wurden zu einem Gräberbrei, als sei die Sintflut gekommen und musste die Erde auftun, um diesem grässlichen Jahr und gleich der ganzen elenden Weltgeschichte ein Ende zu bereiten.
hörte er Bettchen einen gellenden Schrei tun und als er sich erschrocken zu ihr umdrehte, sah er, wie sie vor einem Knochen aus Müllerkarls Grab zurückwich, der vom Regen blankgeschüttet aus der Erde ragte. Kaum hatten sie den Schreck überwunden, als aus dem Grab von Hennegickels Theres ein Schenkelknochen herausgespült wurde und überall, wo sie die Toten im Winter nur einen Fuß tief begraben hatten, wurden aus den zerfallenen Särgen die Zipfel der Totenhemden, Ellen und Speichen und Handknochen herausgeschwemmt und schließlich kamen auch noch die Knochen derer, die sie zwei Fuß tief begraben hatten und allüberall rächten sich die Toten in ihren zerfallenen Hochzeitsgewändern für die halbherzigen und kraftlosen Begräbnisse des Winters.
Vinzenz und Bettchen aber glaubten, die Auferstehung der Toten zu erleben und dass das jüngste Gericht und der Höllenschlund selber sein Maul aufriss, mitten auf dem Kirchhof von Scholmerbach! Vinzenz hatte das große Kreuz um seinen Hals emporgerissen und schrie:
Und er schrie auf deutsch und lateinisch, was ihm in den Sinn kam:
Und Bettchen schrie:
Und sie sprangen über die Buchsbaumhecken und Bettchens Rock zerriss, und das Wollmieder und das Wintertuch hatte sich voll Nässe gesogen wie ein Schrubbsack, Pfarrer Vinzenz aber drohte über den Kirchhof hinweg mit seiner dürren, zitternden Faust:
Sie rannten weinend, fluchend und betend zurück nach Scholmerbach und die erste Tür, die offenstand, war die zu Honiels Wirtschaft, und sie flüchteten sich hinein, sanken an den warmen Ofen und bekreuzigten sich ein ums andere Mal.
Honiels Anna brachte ihnen eine warme Biersuppe, um sie zu stärken und ihnen den Schrecken aus der Seele zu nehmen und Bettchen trank als erstes einen Schnaps. Als sie die Augen hob, sah sie Theodor mit seinen schwarzen Locken, der sie neugierig musterte und nicht wußte, welche glühende Leidenschaft in Bettchen für ihn tobte. Schließlich hatte er ihr nur hier und da mal die Wolle gehalten und sie in die Hüften gezwickt hatte und mit ihr gesungen: – Draußen rappelts am Scheunentor-. Jetzt aber, wo sie betend und fluchend und zitternd vor ihm saß und das klatschnasse Leinenhemd auf ihrem Busen bebte, war er auf einmal interessiert, mehr als im vergangenen Jahr, als ihm in Wahrheit alle Mädchen gefielen, jedes Weibsmensch von Scholmerbach und von Ellingen und von Linnen gefiel ihm. Wie sollte man sich da entscheiden, und warum auch?
Bettchen hingegen…so aufgeregt, mit wirrem, nassen Haar und glühenden Wangen und Schnaps im Leib, schien ihm auf einmal so betörend und aufregend wie sonst keine.
Er hustete heiser, nahm Bettchens Hände, um sie trocken zu reiben, während ihre schmutzigen Röcke vor dem Ofen einkrusteten und sie stammelte:
Und er nahm sich vor, sowie der Regen nachließ, auf den Kirchhof zu laufen und selber zu sehen, wie die Toten aus den Gräbern gerutscht waren, er konnte es kaum abwarten, und dann würden sie sich in der Nacht in der Spinnstube lauter Gruselmärchen erzählen und dann würde er Bettchen die Wolle halten, aber nur ihr, und dann wollte er sie nach Hause bringen, weil sie sich so fürchtete, und dann stahl er ihr einen Kuss.